Donnerstag, 30. Oktober 2008

Qualen des Tages II







Bielefeld, 5.45 Uhr. Ein junger dynamischer Mann schreitet zu seinem Auto. Es ist sau kalt. "Das sind doch gefühlt minimum minus 28 Grad", denkt er. Auch das noch. Die Winschutzscheibe ist vereist. Kratzen ist angsagt. Gänsehaut pur. Doch die Freude darüber hält sich in Grenzen. Schnell stürzt er ins Auto, dreht den Zündschlüssel um, schiebt den Heizungsregler hoch bis zum Anschlag und setzt den Polo, Baujahr 1990, in Bewegung. Läppische 418 Kilometer liegen vor ihm. Erwartete Ankunftszeit in Neuruppin: 9.45 Uhr. Erst dann wird der Tag so richtig beginnen, das weiß er ganz genau. Denn in der Redaktion gibt es kein Erbarmen. Preise winken zwar keine, aber investigativer Journalismus ist stets gefragt. „Puh“, sagt er. „Was wird das wohl für ein Tag werden?“.

Es nutzt nichts. Der in Gedanken versunkene Herr der Autobahnkilometer gibt Gas - ohne Co-Piloten, ohne anständige Musik. Eine Qual. Der antiquierte Kassettenrekorder seines Radios hat den Geist aufgegeben - rien ne va plus, nichts geht mehr und das seit Monaten. Wie dem auch sei, zunächst ist Ampelhopping angesagt. Er sieht Rot, soweit das Auge reicht. "Hmm." Das Hirn rattert. "Wenn das so weiter geht, muss ich wohl auf der Bahn den Bleifuß setzen." Er vergisst dabei nur eines: Der Polo bringt bestenfalls 140 Kilometer pro Stunde. Eigentlich nicht schlecht, aber "Dieter" war zur Wendezeit bereits auf dem Zenit seines Könnens. Berge liebt der Polo ebensowenig wie notorische Linksfahrer, die ihn ständig ausbremsen. Doch um diese frühe Uhrzeit gibt es eh nur Raser. Glück gehabt. Die A2 ist voll, aber Staus sind nicht in Sicht. Dafür ist es zu nebelig im Auto. Der Qualm der Zigaretten lässt keinen Durchblick zu. "Egal, Augen zu und durch", denkt er.

Anfangs noch auf Adrenalin beginnt es ab Hannover monoton zu werden. Die Nachrichtenlage ist klar. Er hat längst alles verinnerlicht. Dann dudeln NDR2 und im Wechsel irgendwelche Hit-Radios, die wie immer ihren größten Hits aller Zeiten spielen. "Mir wird schlecht." Plötzlich ein Lichtblick. Die Nebelschwaden haben sich verzogen. Vor Wolfsburg ein klitzekleiner Stau: VW ruft. Das war's - immer weiter geradeaus. Dann ist sie wieder präsent: Die ehemalige innerdeutsche Grenze ist in Sicht. Erinnerungen werden wach. Früher, auf dem Weg nach West-Berlin, gab es immer dieses leichte Kribbeln wenn die Vopos die Papiere kontrollierten. Er weiß nicht mehr, wie oft er diese Strecke bereits gefahren ist, aber die Gedanken sind immer wieder die selben. Ab und zu rastet er dort und schaut sich die Ausstellung in Marienborn an. Heute nicht.

Hinter Magdeburg packt es ihn. Den Kaffee kann er förmlich riechen. Es wird Zeit, schließlich ist es bereits 8.07 Uhr. Nur noch 130 Kilometer bis zum Ziel. Endspurt. Autobahnwechsel am Dreieick Werder. 120 km/h sind erlaubt. Er weiß es aus Erfahrung: "Bloß nicht schneller." In Brandenburg wird extremst geblitzt. Kein Spaß. Den Blick hat er stets auf den Tacho gerichtet. Von Panik keine Spur. Der Autopilot ist eingeschaltet. Monotonie, Agonie.

9.40 Uhr. Geschafft. Nach knapp vierstündiger Fahrzeit ist Neuruppin erreicht. Trotzdem: Er ist fertig, absolut fertig!

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