Mittwoch, 18. Februar 2009

Der Röchelmann


Mit der Bahn zu fahren, ist immer wieder ein genüssliches Erlebnis. Völlig abgewrackt und ohne dafür eine Prämie zu erhalten, sitze ich gedankenversunken in der hintersten Reihe. Doch dann plötzlich werde ich Zeuge eines unglaublich, orgiastisch anmutenden Exzesses. Der Viren-Papst bläst zwei Sitzbänke vor mir erbarmungslos zum Frontalangriff. Er röchelt was seine Bronchien nur so hergeben. Um mich herum schießen tödliche Blicke wie Giftpfeile in Richtung Röchelmann. Wer einen Kopfhörer hat, wähnt sich in Sicherheit. Doch selbst Ohrstöpsel helfen nicht.



Die ersten Bahnfahrer verlassen die Sitzreihen. Ich amüsiere mich köstlich, wenngleich ich genervterweise zugeben muss, dass sich die Intervalle der Röchel-Attacken Minute um Minute verkürzen. Dann ist es soweit: Er schmettert eine ganze Arie durch den Waggon. Andere Reisende stimmen gleich mit ein - vielleicht aus Mitleid? Ich weiß es nicht. Einige Brocken drohen sogar förmlich aus ihm herauszuspritzen. Ich möchte nicht wissen, wie es unmittelbar vor ihm aussieht. Dann steht plötzlich eine junge Frau auf und unternimmt den ersten Hilfeversuch. "Ich hab' eine Reisapotheke dabei. Kann ich Ihnen helfen? Ich habe Pastillen dabei", sagt sie mit einem total angefressenen Gesichtsausdruck. "Ja", antwortet der Röchelmann, "das ist sehr innovativ". Okay, denke ich. Der Mann ist echt gut drauf. Doch 20 Sekunden später geht die Röchelei gleich weiter, und zwar noch intensiver. Leser können nicht mehr lesen, Handy-Freaks nicht mehr telefonieren. Der wahre Meister der Viren läuft zur Hochform auf.



Mittlerweile haben drei Sitznachbarn die Flucht ergriffen. Manche nutzen beim Stopp die Gunst des Augenblicks. Sie geben vor, auszusteigen, ziehen aber stattdessen in das nächste Abteil um. Bei einer älteren Dame spiegelt sich das Funkeln in den Augen wider. Vermutlich sagt sie in Gedanken zu mir: "Du arme Socke. Ich bin den Viren-Meister jetzt endlich los. Viel Spaß noch." Pustekuchen. Reumütig kehrt sie wenige Minuten später wieder zurück, setzt sich und schmollt. Der Zug ist voll, proppenvoll. Ungeachtet dessen legt der Röchelmann mit einer perfekt initiierten penetranten Permanenz wieder los. Die Stimmung steigt. Ein Platz ist frei geworden. Der Neuankömmling setzt sich hin und steht sogleich wieder auf, als der Meister erneut sein Konzert des Grauens anstimmt. Dann klingelt sein Handy - synchron zum Röcheln. Aber: Während des Gespräches, vermutlich mit seiner Frau, hat dieser krasse Typ nicht ein einziges Mal gehustet. Häh? Nach dem Telefonat legt er aber wie gewohnt nach. Eine Finesse hat er sich aber nicht nehmen lassen: Das Hochziehen des Rotzes. Wunderbar!



Als ich dann zu ihm hinüberblicke, sehe ich, was er liest: Es ist ein Essay mit der Überschrift "Das Rennen um den ersten Reaktor". Alles klar? Ein unglaublicher Typ.

Audio-Version:
http://rattenalarm.podbean.com/medias/web/aHR0cDovL21lZGlhNy5wb2RiZWFuLmNvbS8xMjczNjMvdS9EZXJSY2hlbG1hbm4ubXAz/DerRchelmann.mp3

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Witzig geschrieben, ich kanns mirsowohl bildlich als auch akkustisch vorstellen!

Anonym hat gesagt…

Schöne Schreibe, gern gelacht, lange Weile Bahn fahren also nicht macht!
netti

Anonym hat gesagt…

Codein hilft immer